Das Stilfser Joch gilt mit seinen 48 Kehren zwischen dem Südtiroler Ort Prad (900 Meter) und der Passhöhe auf 2757 Metern Meereshöhe zweifellos zurecht als Höhepunkt für jeden Radler. Der Reiz dieser Tour liegt aber auch darin, dass sie ein ganz anderes, vielleicht sogar schöneres Erlebnis bereithält. Hin und zurück führt sie über den Ofenpass (2149 Meter) und damit quer durch den Schweizer Nationalpark, in dem wir die Welt der Alpen noch buchstäblich in einer Urlandschaft vorfinden. Bei der Fahrt durch scheinbar endlose Bergkiefern- und Arvenwälder lassen wir die Zeit regelrecht hinter uns. Wenn wir den Ofenpass nach Osten hinunterrollen, gelangen wir ins Münstertal. Eine entlegene Schweizer Region, der einzigen, die dem Großraum des Etschtals zuzuordnen ist. In Müstair finden wir neben einem Benediktinerinnenkloster die wohl älteste Kirche der Schweiz (Unesco-Welterbe), gestiftet von Karl dem Großen (König und Kaiser von 768 bis 814).
Die dann folgende Auffahrt in Südtirol zum legendären Stilfserjoch ist mit 48 Kehren für jeden Rennradfahrer ohne Zweifel phantastisch. Zudem eine Zeitreise durch die Jahrhunderte. Im Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) zogen Truppen über den Pass. Zwischen 1820 und 1826 erhielt die Strecke in österreichischer Zeit ihr heutiges Gesicht. Der Gipfel wird seit einigen Jahren Cima Coppi genannt. Wie das in der eventgetriebenen Welt heute so üblich ist, wird die Passhöhe (2757 Meter) am Denkmal für den legendären, 1960 verstorbenen italienischen Radrennfahrer Fausto Coppi mit 2760 Metern um drei Meter zu hoch angegeben. Der Berg Ortler (3905 Meter) wird eingerahmt von Souvenirshops, Nippes-Radtrikots und Imbissbuden aller Art zu einer Art surrealem Stillleben, bewundert von Massen erholungssuchender Menschen. Eine Wohltat ist es, nach einer wirklich großartigen Auffahrt diese Passhöhe so schnell wie möglich zu verlassen und über den ruhigen Umbrailpass (2503 Meter) zurück in die Schweiz ins Münstertal zu fahren. Dann haben wir sie noch einmal vor uns, diese beeindruckende Fahrt durch den Schweizer Nationalpark und über den Ofenpass. Nicht so hoch wie das Stilfser Joch. Aber auch wenn die Beine allmählich schwer werden - in einem wohltuenden Sinn langsam und zeitvergessen. Der tatsächliche Höhepunkt der Tour.
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