Im Herz der Schweiz unterwegs: So könnte man die Tour, die wir an dieser Stelle vorschlagen, in Kurzform umschreiben. Die Strecke führt über den Pragelpass (1548 Meter) und den Klausenpass (1952 Meter), zwei satte und gleichermaßen landschaftlich schöne Anstiege. Mit rund 130 Kilometern hat die Tour eine durchaus satte Länge und etwa 3100 Höhenmetern mit einigen hochprozentigen Anstiegen (bis 16 Prozent am Pragelpass) sind nicht zu unterschätzen. Aber die Runde ist auch regelrecht gespickt mit großartigen landschaftlichen Höhepunkten.
Im Bereich Altdorf/Bürglen sind wir auf den Spuren des Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell unterwegs. Ein besonderes Schmankerl ist der Urner Boden auf der Ostseite des Klausenpasses. Er ist die größte Alm der Schweiz, rund 2000 Kühe sind hier während der warmen Jahreszeit anzutreffen. Und sie haben „Vorfahrt“ – auch als Radler sollte man sich da auf die eine oder andere Pause einstellen. Aber nicht zuletzt auch das gibt dieser Tour einen ganz besonderen Reiz.
Mit dem Klöntaler See liegt auch noch ein besonderes reizvolles Gewässer am Wegesrand. Wem der Sinn nach Schwimmen steht – der kommt hier inmitten einer mitreißenden Bergwelt auf seine Kosten.
Nach der Auffahrt auf der Ostseite des Pragelpasses mit Steigungen bis zu 16 Prozent tauchen wir auf der Westseite ein in den Bödmerenwald, der als der größte Fichtenurwald Westeuropas gilt. Aber die Westseite des Pragelpasses hat es noch in anderer Weise in sich. Bis zu 18 Prozent ist das Gefälle, die Straße ist eine üble Schlaglochpiste, bei der Abfahrt ist besondere Vorsicht geboten. Doch einmal unten angekommen, kann man herrliche Tiefblicke zum Vierwaldstätter See (er heißt hier Urner See) genießen.
Die Axenstraße nach Süden Richtung Altdorf ist fahrerisch auch mit Blick auf etliche Tunnels kein Vergnügen. Aber immerhin gibt es für Radler eine eigene Spur, die immer wieder auch um Tunnels herumführt. Der Klausenpass mit seiner an der Bergflanke ausgesetzten Westseite (Steigungen mit Spitzen von stellenweise 12 Prozent) und der Fahrt über den Urner Boden auf der Ostseite der Straße gilt in Radlerkreisen zurecht als einer der ganz großen landschaftlichen Höhepunkte in den Alpen.
Wir starten die Tour im Herzen von Glarus, mit rund 5800 Einwohnern die kleinste Kantonshauptstadt der Schweiz. Anders als viele überlaufene Regionen der Schweiz hat sich der Kanton Glarus seine Ursprünglichkeit noch weitgehend bewahrt. Weite Bereiche von Glarus liegen unter 500 Metern Meereshöhe – und dann geht es beim legendären Berg Tödi auf über 3600 Meter hinauf, steil sind die Abstürze, groß die Höhenunterschiede. Dies verleiht der Landschaft eine mitunter geradezu atemberaubende Wucht. Im Grenzbereich zwischen den Kantonen Glarus und Graubünden liegt die Tektonikarena Piz Sardona (Unesco-Welterbe). Dort haben sich auf einzigartige Weise uralte Gesteinsschichten über jüngere Felsschichten geschoben. Für Geologen, die die Geschichte der Alpen erforschen, ist die Gegend ein „Eldorado“.
Nach dem Start in Glarus führt die Runde am Klöntaler See vorbei hinauf auf den Pragelpass. Der Pragelpass ist in der Regel an den Wochenenden von Richisau auf der Ostseite bis zur Passhöhe für Pkw und Motorräder gesperrt. Nach der schwierigen Abfahrt werden Schwyz und der Vierwaldstätter See (Urner See) erreicht. In Schwyz entscheiden wir uns für eine Variante, die die Hauptverkehrsstraße ausspart.
Nach der Fahrt nach Süden über die Axenstraße folgt über Altdorf/Bürglen der lange Anstieg zur Klausenpasshöhe. Bürglen gilt als eine der ältesten Gemeinden des Kantons Uri. Der Sage nach soll Wilhelm Tell hier gelebt haben. Im Ort gibt es ein Tell-Museum und etliche Denkmäler. Die Tell-Statue in Altdorf erinnert daran, dass hier der legendäre Apfelschuss über die Bühne gegangen sein soll.
Nachdem wir die Klausenpasshöhe erreicht haben, rollen wir über den Urner Boden gewissermaßen ins Finale der Tour hinein. Bei der Fahrt über den Urner Boden können wir uns eine ungewöhnliche Sage ins Gedächtnis rufen. Gemäß Überlieferung kam es immer wieder zu Grenzstreitigkeiten zwischen den Kantonen Uri und Glarus. So entschied man sich für einen Wettstreit. Beim ersten Hahnenschrei sollten sich zwei Läufer aus den verschiedenen Tälern nach oben auf den Weg machen – ihr Treffpunkt sollte die Grenze sein. Der Glarner Hahn verschlief … und so hatte der Läufer aus Uri freie Bahn und traf den Glarner Läufer, als er auf der Ostseite fast schon den Fuß des Klausenpasses in Linthal erreicht hatte. So gehört der Urner Boden heute zu Uri.
Der Gedanke an diese ungewöhnliche Episode trägt uns bei unserer Radtour über welliges Terrain zurück zum Ausgangspunkt Glarus, den wir nach rund 130 Kilometern Fahrt erreicht haben. Es ist das Finale einer der schönsten Radtouren im gesamten Alpenraum.
Literaturempfehlung:
Thomas Mayr, Rennradfahren in den Alpen. Ausgewählte Touren über die schönsten Alpenpässe, Delius-Klasing-Verlag, Bielefeld, 2006: Anders als in vergleichbaren Führern beschreibt Mayr auf eine griffige Weise Geschichte, geografische Besonderheiten und Kultur einer Region. Radeln ist eben „nicht nur radeln…“
Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, uraufgeführt am 17. März 1804 in Weimar. Erhältlich in zahlreichen Verlagen. Bei unserer Fahrt im Herzen der Schweiz als Lektüre sehr zu empfehlen.
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