3. Tag
Pamplona - Lorca
Wetter: wolkenlos, 18 – 36
51,6 km, 986 Höhenmeter
Der schnarchende Franzose
Voller Neugier erwarte ich den heutigen Tag.
Ich schlafe tief und fest, bis mich um 5 Uhr Waden- und Fußkrämpfe wecken. Mit den Krämpfen stecke ich in einer Zwickmühle. Um dem Wadenkrampf zu lösen, ziehe ich mein Fußgelenk nach oben, deren Folge ist ein Krampf im Muskel neben dem Schienbein. So ist es mit jedem Muskel und Gegenmuskel im Fußbereich. Und auch in beiden Beinen. Es ist so verhext, dass ich aufstehen muss und wieder nehme ich eine in Wasser aufgelöste Magnesium-Tablette zu mir. Nach einigen Runden zu Fuß durch mein Zimmer haben sich meine Muskeln wieder etwas beruhigt. Ich setze mich vorsichtig auf die Kante meines Bettes und lege mich langsam wieder hin. Während ich mir die Decke über mich ziehe konzentriere ich mich möglichst die Muskulatur meiner Beine nicht in Anspruch zu nehmen, um einen weiteren Krampf zu vermeiden. Ich frage mich, wie das mit den Krämpfen weiter gehen soll. Ich bin bisher nur wenige Kilometer gefahren und sicherlich die gleiche Anzahl von Kilometern gelaufen. Wie wird das erst, wenn ich mal körperlich belastet werde, und in ein paar Tagen kommen auf noch die schwierigen Etappen durch die Berge. Ja, da sind sie wieder, die Skrupel, die ich schon vor Reisebeginn hatte. Mit diesen Gedanken schlafe ich ein und kann noch mal gute zwei Stunden intensiv schlafen. Ich bin zwar noch immer etwas müde, aber ich nutze die Gelegenheit und bleibe wach. Nun freue ich mich auf eine Dusche. Mache mich reisefertig, indem ich mir die Reisekleidung anziehe und den Rest meiner Sachen in den Satteltaschen verstaue. Nach Bezahlung meines Hostals und Erhalt meines Rades mache ich mich auf zum vereinbarten Treffpunkt.
Ich bin zwar nicht pünktlich, aber die Vier sind schon alle da. Bei noch kühlen 18 Grad machen wir uns auf Asphaltwegen aus Pamplona heraus nach Cizur Menor. Kurz hinter Cizur Menor ergibt sich ein weitläufiger Blick auf die Pamplona-Ebene und dessen Flughafen, sowie auf die im Hinterland befindlichen Ausläufer der Pyrenäen. Abgerundet wird das von einem strahlend blauen Himmel. Weiter geht es über asphaltierte, fast vom Autoverkehr befreite Strassen durch die Orte Arlegui und Subiza. Es geht dort recht hügelig berauf und ab. Oft sehen wir von der Sonne verdörrte Sonnenblumenfelder. Der Anblick muss im Sommer gigantisch sein.
Bis nach Campanas geht es einige Kilometer nur bergab. Ab hier geht es etwa 1,5 Kilometer über die stark befahrene N-121. Die Lautstärke der LKW’s und der von ihnen aufgewirbelte Staub sind äußerst unangenehm. Mein lautstarkes Fluchen wird von niemandem wahrgenommen. Die Hälfte dieser nervtötenden Strecke fahre ich auf dem Bürgersteig, danach auf dem schmalen Standstreifen der Landstrasse. An einer Tankstelle kontrolliere ich noch mal den Reifendruck. Dieser Höllenweg auf der N-121 ist nicht wirklich lang, aber dennoch bin ich froh endlich auf eine ruhigere Strasse abbiegen zu können. Wir durchfahren das moderne und sehr ruhige Örtchen Enériz. Es hat stolze 281 Einwohner. Am Ortausgang folgen wir dem gelben Pfeil auf blauem Grund, oder der gelben Muschel auf blauem Grund. Das sind die wichtigsten Zeichen, die den Weg nach Santiago de Compostela weisen. Auf einem gut zu fahrenden Schotterweg fahren wir auf die Kirche Santa Maria de Eunate zu. Wir fahren und fahren, aber eine Kirche ist nicht in Sicht. Erst abends stelle ich fest, dass wir hätten nach rechts in einen Trampelpfad abbiegen müssen. Es ist schade, dieses schöne und einsame Bauwerk nicht gesehen zu haben.
Santa María de Eunate ist eine romanische Kirche am aragonesischen Zweig des Jakobswegs in. Sie liegt im freien Feld wenige Kilometer zwischen den Orten Enériz und Obanos.
Die Kirche hat einen achteckigen Grundriss und eine außen fünfeckige und innen halbrunde Apsis. Das Oktogon ist kunstvoll mit zwei Portalen und Arkaden versehen, die kleinen Fenster sind aus Alabaster, die Kapitelle und die Portale sind reich verziert. Mozarabische Einflüsse lassen sich an den wulstigen Rippen ablesen, die sich, von den Pfeilern ausgehend, in der Kuppel des Kirchenraums treffen und das Gewölbe tragen.
Außen ist die kleine Kirche parallel zur Außenwand in einigen Metern Abstand von Arkaden umbaut, die dem Bauwerk wohl zu seinem Namen verholfen haben. Der Arkadenumgang ist wiederum von einer Mauer umgeben. Aus den fehlenden Bauspuren schließt man, dass es zwischen Kirche und Arkadenumgang nie eine Überdachung gegeben hat, wie sie andernorts zum Schutz der Pilger vor Witterung und als Übernachtungsmöglichkeit errichtet wurde.
Die Kirche wurde vermutlich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts im romanischen Stil und mit mozarabischen Einflüssen erbaut. Da sie von keiner Siedlung umgeben ist und bei Grabungen Gräber mit Muscheln als Grabbeigaben entdeckt wurden, liegt die Vermutung nahe, dass sie als Friedhofs- oder Hospizkirche für Pilger diente. Möglicherweise war sie aber auch eine Kapelle, die die Templer als Heiliggrabkirche nutzten, dafür spricht die Vorliebe – weil orientiert an der Grabeskirche in Jerusalem – der Templer für den Zentralbau. Zudem besteht eine Ähnlichkeit zur nahe gelegenen Heiliggrabkirche in Torres del Río.
Die Lage der Kirche, ihre teilweise ungeklärte Geschichte sowie die spezielle Stimmung in der Kirche regten viele Menschen zu Spekulationen an. So existiert in der Gegend der Kirche eine Sage, die die Ähnlichkeit des Kirchenportals mit dem einer anderen nahen Kirche dem Wirken übernatürlicher Kräfte zuschreibt, während sie wohl nur Beleg für das Wirken desselben unbekannten Steinmetzes ist. Weiterhin glauben Anhänger bestimmter esoterischer Richtungen, dass Eunate neben Notre Dame de Paris und dem Taj Mahal einer der Kraftorte dieser Erde sei.
In der dort lebenden Bevölkerung ist Santa Maria de Eunate speziell als Heiratsort beliebt.
Nach einstündiger Irrfahrt über Schotterwege, die hoch und runter durch die wunderschöne Landschaft führt, bemerken wir, dass es bereits Mittag ist. Es ist bereits 30 Grad, bei wolkenlosem Himmel brennt die Sonne. Wir haben Hunger, aber kein Proviant mit. Wir sind mitten in der Pampa. Selbst wenn wir einen Ort finden, dort sind alle Läden geschlossen, denn es ist Siesta. Doch dann sehen wir am linken Wegrand Brombeersträucher stehen. Wir probieren diese gerade im richtigen Reifegrad befindlichen großen, saftigen und sehr aromatischen Brombeeren. Sie schmecken so gut, dass wir eine halbe Stunde benötigen, bis wir alle satt sind. Gut gestärkt fahren wir weiter bis zu einer Weggabelung. Fahren wir nun nach links oder nach rechts? Wir entscheiden uns für linken Weg, da dies unserer westlichen Richtung entspricht. Nach einigen hundert Metern geht der Weg steil bergauf und endet oben auf dem Berg in einer Sackgasse. Aber diese Sackgasse muss einen Grund haben, denn hier oben auf dem Berg steht ein ehemaliges Kloster mit dem Namen Ermita de San Guillermo o Santo de Arnotegüi VII. Ich besichtige dieses ehemalige Kloster, während die Anderen die landschaftliche Aussicht genießen. Ich gelange in das Kircheninnere und bewundere die Schlichtheit dieses Ortes. Es ist ein einfacher Altar mit frischen Blumen geschmückt. Im Kirchenraum stehen links und rechts jeweils 6 Holzbänke. Im Eingangsbereich der Kirche befinden sich ein Tisch mit einigen Informationsbroschüren und einem aufgeschlagenen Buch, in welches ich meine Anwesenheit mit Datum versehe, sowie eine kleine Danksagung, dass ich diesen Ort habe sehen dürfen.
Wieder bei den Mitpilgern genießen wir von diesem hohen Hügel die Landschaft, sowie die Ortschaften, die wir von hier sehen. Links neben uns geht es über einen steilen Trampelpfad steil hinab und wieder hoch zu einer Ruine. Ein Besuch dieser Ruine interessiert mich sehr, doch da wir schon viel Zeit durch unsere Irrfahrt vergeudet haben, entschließen wir uns zu der sehr steilen Abfahrt, die ein Downhill-Rennfahrer als einigermaßen anspruchsvoll ansähe. Diese Abfahrt, die aus Sicherheitsgründen teilweise schiebend beziehungsweise laufend vollzogen wird, endet in der von oben gesehenen größeren Ortschaft. Wir dachten, wir wären in dem Ort Obanos, durchquerten diesen Ort während der menschenleeren Siesta, und kamen kurz vor einer Brücke an einem Brunnen an. Wir trinken viel Wasser, füllen unsere Flaschen wieder auf, und erfrischen uns, denn die mittlerweile 36 Grad sind sehr schweißtreibend, auch ohne Rad zu fahren. Als wir wieder weiterfahren wollen, bemerken wir, dass wir vor der geschlossenen Touristeninformation von Puente la Reina stehen. Es beflügelt uns, dass wir nun doch schon weiter sind, als gedacht. Und nun bemerken wir auch, dass die Brücke vor der wir pausieren „die Brücke“ Puente la Reina ist. Nun wird diese Brücke von uns bestaunt, und von allen Seiten fotografiert.
Puente la Reina ist der Ort, wo die beiden Jakobswege über die Pyrenäenpässe von Somport (Aragonien) und von Roncesvalles zusammentreffen.
Als wir uns wieder reisebereit machen, bekommt jeder von uns innerhalb von fünf Minuten Bauchschmerzen. Mir ist so übel, dass ich dazu geneigt bin, meinen Mageninhalt zu entleeren. Unsere Spekulationen über den Grund unseres Unwohlbefindens sind recht einfach. Entweder das Brunnenwasser oder die Brombeeren. Waren die Brombeeren gespritzt? Aber wahrscheinlich haben wir einfach zu viel von diesen reifen Beeren zu uns genommen.
Die nächsten fünf Kilometer geht es auf einer ruhigen Asphaltstrasse nur bergauf. Das eben zu uns genommene Wasser bahnt sich auch gleich wieder durch die Poren den Weg ans Tageslicht. Nach kurzer Abfahrt machen wir am Ortseingang von Mañeru an einem Brunnen eine Pause. Obwohl unsere Bauchschmerzen mittlerweile wieder verschwunden sind, schütten wir unsere Wasserflaschen aus und füllen sie mit frischem Wasser auf. Kerstin und ich entschließen uns ab hier den Original-Pilger-Camino zu fahren, daher trennt sich hier der Weg mit den beiden Männern und der Frau aus den Niederlanden. Wir wünschen uns ein Buen Camino, da kommt ein Pärchen mit dem Rad angefahren, und begrüßt uns nett. Die Beiden sind mit demselben Outfit bekleidet, was bei uns als Partnerlook beschmunzelt wird. Beide haben eine britische Flagge auf Ihren Rucksäcken, und ich erkenne in ihrer Unterhaltung auch eindeutig die englische Sprache. Aber dazu später mehr.
Zunächst fahren wir einen Weg hinunter, der durch Mañeru hindurch über einen Schotterweg an Weinreben vorbeiführt. Kerstin lässt es sich nicht nehmen ein paar der köstlichen Trauben mitzunehmen. Weiter führt der Weg ins Dorf Cirauqui, in dem wir den bekannten Camino-Zeichen folgen. Aber als der Weg in Kopfsteinpflaster wechselt und extrem steil aufwärts führt, müssen wir vom Rad steigen und schieben. Vor einem traditionellen Gebäude halten wir an, um hier irgendwo einen Pilgerstempel zu bekommen. Kerstin macht sich mit unseren Pilgerausweisen auf die Suche. Ich passe derweil auf unsere Räder auf, sitze im Schatten und frage mich auf die recht professionelle Bühne schauend, welches Fest hier in den letzten Tagen veranstaltet wurde. Die öffentlichen Müllbehälter sind überfüllt, darum herum liegen leere Bierplastikbecher. Kerstin ist schon gefühlte zehn Minuten weg. Ich gehe zur Bühne und schaue mich um und sehe nun das Gebäude in deren Schatten ich bei den Rädern saß. Das Gebäude ist im unteren Bereich mit Rundbögen ausgestattet. Darüber an den angedeuteten hier bekannten winzigen Balkonen hängen Banner und viele wahrscheinlich örtlich bezogene Flaggen aus. Dann sah ich einen Einheimischen auf dem Bürgersteig sitzen, den ich danach fragte, welches Fest hier veranstaltet wurde. Soviel, wie ich verstanden habe, ist das eben beschriebene Gebäude das Rathaus von Cirauqui.
Das Fest geht von Dienstag bis zu dem darauf folgenden Montag. Zur Eröffnung eines jeden Festtages wird eine Rakete gestartet. Traditionell wird dieses Fest vom amtierenden Bürgermeister veranstaltet zu Ehren von „Santa Cruz“. Das Fest soll dieses Jahr rund 56.000 Euro gekostet haben, und dient der Aufmerksamkeit der politischen Parteien. Auf der Bühne gibt es täglich verschiedene Auftritte. Donnerstags ist der Kostümwettbewerb, bei dem die Vorbereitungszeit über einen Monat beträgt. Die besten Kostüme werden prämiert. Abends finden Konzerte statt, unter anderem von der ortsbekannten Band „Rally“. Dieses Fest ist über die Ortsgrenzen hinaus bekannt, sodass auch Gäste aus Lorca und Puente la Reina kommen.
Kerstin ist noch immer nicht zurück. Ich gehe zurück in Richtung unserer Räder, da fragt mich mitten auf dem kleinen Platz ein französischer Radfahrer mit dreiköpfiger Begleitung, wo es hier weiter geht. Ich konnte es mir nicht verkneifen und sage: „Immer den gelben Pfeilen nach!“ und zeigte auf den unübersehbaren Durchgang durch das Rathaus. Ich folge den Franzosen in den Durchgang und stelle fest, dass hier ein Stadtstempel zum Selbststempeln ausliegt.
Gerade denke ich an Kerstins vergeudete Zeit, da kommt sie mir nach gefühlten 45 Minuten entgegen. Stolz präsentiert sie mir die Stempel, die sie in einer Albergue ergattert hat. Kerstin erzählt mir, dass in der Albergue niemand an der Rezeption ist. Wieder draußen ruft eine Frau, dass sie gleich kommt. Kerstin wartet und wartet, doch niemand kommt. Sie sieht Stempel und Stempelkissen an der Rezeption liegen und macht nach einer selbst gefühlten sehr langen Wartezeit eigenmächtig die Stempel in unsere Pilgerausweise!
In der Passage im Rathaus machen wir ebenfalls noch jeweils einen weiteren Stempel in unsere Ausweise. Hier werden wir angesprochen von einem deutschen Rentnerehepaar. Sie fragen uns nach unseren bisherigen Erfahrungen!? Sie selbst sind mit einem Wohnmobil unterwegs. Sie laufen den Camino, und dann wieder zurück zum Wohnmobil! Ich weiß nicht, ob dies dem ursprünglichen Sinn des Camino entspricht. Aber je weiter man sich Santiago de Compostela nähert, desto kurioser wird es mit den Pilgern, die sich die Compostela (Pilgerurkunde) erschwindeln wollen.
Nach einem unbehaglichen „Buen Camino“ mache ich mich mit Kerstin auf den Weg Cirauqui zu verlassen. Nach ein paar hundert Metern am Ortsausgang rufen uns Pilger ein „Buen Camino“ zu. Wir erwidern das „Buen Camino“, doch dann höre ich: Rainer, bist Du es? Ich bremse, bleibe stehen, sehe mich um, und erkenne Beata, die ich in Pamplona kennenlernte. Kerstin bekommt alles mit, und bleibt auch stehen. Wir werden eingeladen zu einer Flasche Rotwein, die einer besonderen Beschreibung bedarf! Beata und ihr deutscher und italienischer Begleiter laufen durch den Ort Cirauqui auf der Suche nach einer Bodega um mal was anderes zu trinken als nur dieses stupide Wasser. Da kommt ein älterer Herr aus seinem Haus, und Beata spricht ihn nach einer Bodega an. Der ältere Herr nimmt die blonde Beata mit ins Haus. Der deutsche und italienische Mitpilger schauen sich wundernd und abwartend an, und warten vor der offenen Tür des Spaniers. Nach ein paar Minuten erscheint Beata mit einer roten Kappe und zwei Flaschen Rotwein. Die Kappe bekommt Beata, da der ältere Herr es nicht verantworten kann, dass Beata sich bei der Hitze einen Sonnenstich einfängt.
Ein Flasche Rotwein haben die Drei schon zusammen geleert. Den Dreien merkt man eine lustige und ausgiebige Gelassenheit an. Die zweite Flasche Rotwein wird nun zu fünft geteilt. Kulinarisch verwöhnt haben uns die reifen Früchte eines Feigenbaumes. Die Feigen schmecken sehr süß, und sind auch sehr sättigend. Hier kann man von dem Leben, was die Natur bietet, und was die Einwohner verschenken. Gesättigt und etwas alkoholisiert ist es nun an der Zeit, dass wir fünf uns herzlich umarmend verabschieden, um uns wieder auf den Camino zu machen. Zusammen mit Kerstin fahre ich gemeinsam einen steilen Schotterweg hinunter, der immer unfahrbarer wird. Nach einigen hundert Metern müssen wir absteigen und die Räder über große Steine hinunter schieben. Endlich unten angekommen geht es über eine Brücke, die aus unserer Sicht nicht als Brücke erkennbar ist. Auf der anderen Seite der Brücke geht es genauso unwegsam und steil wieder bergauf. Mit viel Krafteinsatz und Geduld bewältige ich diese Hürde. Ich stelle mein Rad ab, um Kerstin bei diesem Anstieg zu helfen, doch da haben uns auch Beata und ihre Mitpilger Sandro und Alex wieder eingeholt und helfen Kerstin und ihrem Rad beim Überwinden des schwierigen Anstieges. Gemeinsam zu fünft gehen wir noch einige Zeit zusammen und unterhalten uns. Sandro aus Italien mag die momentane Situation merklich nicht, denn nun sind vier Deutsche mit einem Italiener unterwegs, und natürlich findet die Konversation meist in Deutsch statt, was Toni missfällt. Bei unserem erneuten Abschied vereinbare ich mit Beata, dass wir bei einem dritten Aufeinandertreffen unsere Adressen austauschen. Beata ist körperlich und vielleicht auch vom Wein schon sehr mitgenommen, und bittet mich, falls wir im nächsten Ort nächtigen, für sie ein Bett zu reservieren.
Über Schotterwege geht es recht human über neue Schotterwege und auch recht feste Trampelpfade. Hinter der römischen Brücke treffe ich ein junges französisches Paar, welches am Flussufer eine Pause macht. Ich grüße die beiden, die mich aus Manerù erkennen und freundlich zurück grüßen. Nach kurzer Strecke bergauf durchfahren wir den Tunnel unter der Autobahn A12. Von hier ging es steil bergauf. Der Weg ist mit Schotter neu eingerichtet, aber noch nicht befestigt. Mein Vorderrad gräbt sich in den Untergrund ein, meine Geschwindigkeit reduziert sich drastisch. Ich steige aus dem Sattel und fahre stehend, doch da dreht sofort das Hinterrad durch. Ich stehe auf der Stelle und mir bleibt nichts Anderes übrig als abzusteigen und das Rad zu schieben. Das Schieben des Rades ist mehr als mühsam. Es ist ungefähr so, als würde man sein Rad durch einen trockenen feinen Sandstrand schieben; nur eben bergauf, eine Düne hinauf. Ich befinde mich links meines Rades und muss das Rad etwas schief schieben, da ich sonst das Pedal oder die Satteltasche mit meiner rechten Wade streife. Durch die schiefe Position gräbt sich das Vorderrad noch tiefer in den Sand und das Rad driftet langsam nach rechts. Dennoch trifft das Pedal einige Male meine Wade und reißt gleich blutende Wunden. Ich fluche innerlich, bleibe stehen, trinke Wasser und lasse das französische Paar vorbeilaufen. Im weiteren Laufe dieses Anstieges überholten mich noch einige weitere Fußpilger. Endlich oben angekommen, -es war nur ein Kilometer, der jedoch drei gefühlten Kilometern gleich kommt- stelle ich mein Rad ab, und setze mich auf die Mauer der Iglesia de Lorca. Mir tut einfach alles weh, mein Po, meine Oberschenkel, meine zerschundene rechte Wade, und mein Rücken. Ich habe so viel Flüssigkeit verloren, dass ich nicht mehr schwitzen kann. Nun sitze ich auf der Mauer, Ellenbogen auf meine Knie und meinem Kopf in den Händen haltend, und die einzige Flüssigkeit, die aus meinem Körper austritt sind Tränen. Ich durchsuche meinen Reiseführer nach einer Unterkunft, aber hier gibt es kein Hostal, nur einige Albergue’n. Mit Kerstin wollte ich eigentlich noch bis Estella, aber der letzte Kilometer hat mich so geschafft, dass ich nicht noch die zehn Kilometer weiter will. Zu grausam ist mein Gedanke daran, dass ich bei den verbleibenden Kilometern bis Estella ähnliche Überraschungen erlebe. Ich bin froh, hier lebend angekommen zu sein. Nach einigen Minuten Erholung schieben wir unsere Räder durch Lorca und finden eine Albergue, das passt mir zwar nicht, aber es ist mir mittlerweile egal, wo ich schlafe. Außen an der Albergue befindet sich ein Aushang mit folgender Aufschrift: We speak español, English, italiano, Deutsch and un petit pue de francais.“ Ich finde diese Zusammenstellung der angepriesenen Sprachen recht lustig, und genau so ging es auch weiter. Ich spreche mit dem Hausherrn in Deutsch, woraufhin er erwidert: „Oh, sorry, Ich kann not so god deutsch spreche, so bitte if it is possible to speak english?“ Nun ist das auch geklärt, und Kerstin schaut sich das Zimmer an, während ich auf unsere Räder achte. Kerstin befindet dieses Zimmer für in Ordnung und wir reservieren in dem Vier-Bett-Zimmer noch ein Bett für Beata. Unsere Räder werden abgesattelt und in einem etwa fünfzig Meter entfernten garagenähnlichen Gebäude abgestellt. Danach gehen wir zurück und beziehen mit unserem spärlichen Gepäck das Zimmer. Der Herbergsvater trägt sogar unser Gepäck in die erste Etage. Er sagt uns, dass das Abendessen um 20 Uhr serviert wird.
Gemeinsam gehen wir duschen. Nein, natürlich gehen wir nacheinander duschen, um gegenseitig auf unsere Wertsachen aufzupassen. Es ist schon ein großer Vorteil bei einer solchen Reise einen Partner zu haben, dem man vertrauen kann, insbesondere in Pilgerherbergen. Die Dusche tut mir sehr gut, und ich fühle mich danach fast wie neu geboren. Als ich mein Handtuch zum Trocknen an der Vorrichtung vor dem Zimmerfenster aufhänge, sehe ich Beata humpelnd eintrudeln, und rufe ihr aus dem Fenster zu. Es scheint ihr nicht gut zu gehen, aber dennoch sehe ich ein Lächeln in ihrem Gesicht. Sandro und Alex sind auch da, gehen aber nach einem „Cafe con Leche weiter“. Ich kann mir denken, dass gerade Sandro unsere Nähe nicht wünscht. Gemeinsam mit Kerstin warten wir bis Beata mit dem Duschen fertig ist. Nun müssen wir noch etwas Essbares für den morgigen Tag finden. Draußen auf der Strasse kommt uns eine korpulente Frau mit Einkaufstüten entgegen. Ihr Name ist Sarah und kommt aus Vancouver. Sie sagt uns, wo wir einkaufen können und begeben uns sofort auf den etwa dreihundert Meter langen Weg. Wir kommen nach wenigen Minuten an dem kleinen Einkaufsladen an. Dieser ist verschlossen, doch außen sind zwei Klingeln. Nach genauem lesen der in Spanisch gehaltenen Information unter den Klingeln, scheint eine Klingel für die Privatwohnung, und die andere für den Laden zu sein. Nachdem ich offensichtlich die richtige Klingel für den Laden erwischte, wurde uns die Tür nach circa einer Minute geöffnet und wir betreten den sehr kleinen Laden, der offensichtlicht mehr anbietet, als wir benötigen. Neben frischem Brot, Marmelade und Konserven bekommen wir auch frische Wurst und Käse. Kulinarisch ist somit der nächste Tag gerettet. Kurz vor 20 Uhr saßen wir mit sechs Personen an einem Tisch und warten auf das Abendessen. Da ereilte mich über mein Handy ein Fernruf meiner Frau. Ich nehme das Gespräch an und gehe aus der Albergue auf die Strasse. Ich erzähle meiner Frau von den nicht erwarteten Strapazen des heutigen Tages, obwohl es in meinem Radführer als mittlere Schwierigkeit beschrieben wird. Da ich körperlich so fertig bin, nehme ich sogar eine Nacht in einem Refugio in Kauf. Ich bejahe die Frage meiner Frau, dass ich noch weiterhin mit der sächselnden Bayerin, die übrigens Kerstin heißt hier angekommen bin. Da kommt Kerstin aus der Albergue gelaufen und informiert mich hektisch, dass das Essen serviert ist. Ich beruhige Kerstin mit den Worten, dass der servierte Salat so schnell nicht kalt wird. Ich beende in Ruhe das Telefonat mit meiner Frau und begebe mich etwas verspätet an den Tisch mit dem Salat. Neben dem gemischten Salat stehen auf unserem Tisch auch zwei Flaschen Wasser und zwei Karaffen trockener Rotwein, sowie ein Korb gefüllt mit frischem Brot. Auf das Hauptgericht wartend stellen Kerstin und ich fest, dass auf Ihrem Salatteller Peperoni unberührt liegen, und auf meinem Teller Oliven übrig bleiben. Gegenseitig verspeisen wir die Reste von unseren Salattellern. Wir sitzen mit sieben Leuten am Tisch, Das ältere im Rentenalter befindliche französische Ehepaar neben Kerstin ist stumm. Mit dem anderen Rentenehepaar aus Lyon und dem alleinreisenden Spanier unterhalten wir uns meist in Englisch. Nach dem Salat bekommen wir Spagetti „Lorcanese“ In der Soße ist anstatt Hackfleisch geräucherter Schinken und Salami. Geschmacklich gar nicht schlecht. Als Nachspeise bekommen wir Melone mit Naturjoghurt.
Nach dem Essen geht Kerstin an den hier öffentlichen Computer, um über facebook einige Mails zu versenden und Fotos zu speichern. Den verzweifelnden Gesichtausdruck von Kerstin anzusehen ist äußerst amüsant! Es hapert am Passwort, denn das Passwort mit Sonderzeichen auf einer spanischen Tastatur einzugeben ist nicht gerade einfach, zumal jede Eingabe mit einem „*“ angezeigt wird! Ich bestelle mir einen Espresso und gehe raus auf die Strasse, wo noch reges Treiben herrscht. Ich unterhalte mich kurz mit einem jungen Paar aus Manchester, sowie mit dem Paar aus Lyon und mit der vollschlanken geschichtlich interessierten Sarah aus Vancouver. Nach viel zu kurzen Unterhaltungen weist uns der Herbergsvater darauf hin, dass wir nun in die Nachtruhe gehen müssen. Ich bin zwar körperlich geschafft, aber noch gar nicht müde genug um schlafen zu gehen. Wie sehr ich das hasse, ins Bett befohlen zu werden. Das möchte ich schon bei der Bundeswehr nicht. Beata, Kerstin und ich begeben uns in unser Zimmer und gehen nacheinander ins Bad um die Zähne zu putzen, Das vierte Bett in unserem Zimmer ist belegt von dem „stummen“ alten französischen Herrn, der schon beim Abendessen nichts sagt. Beata klettert vor Schmerzen schimpfend ins obere Bett. Aber das Wort „klettern“ scheint mir bei der Geschwindigkeit als sehr übertrieben, Eine ausgewachsene Weinbergschnecke wäre sicher schneller als Beata. Nach einer gefühlten viertel Stunde hat sie ihr Nachtziel erreicht. Nun fängt sie wieder an zu schimpfen, denn sie hat vergessen, Ihre geschundenen und angeschwollenen Füße mit Ihrer Salbe einzucremen. Beata muss noch mal aus dem Bett herunter klettern, ihre Füße eincremen und im Bad die Hände waschen, alsdann wieder das obere Schlafgemach erklimmen. Da ich mich für meine bösen Gedanken, Beata mit einer Weinbergschnecke zu vergleichen, innerlich schäme, habe ich ihr die Füße eingecremt und massiert. So konnte Beata in Ihrem Hochbett liegen bleiben. Ich wasche mir noch schnell die Hände und begebe mich in mein Bett. Für mich sind Übernachtungen in Auberguen nicht geplant und somit fehlt es mir auch an der entsprechenden Ausstattung. Ich habe in meinem Gepäck keine Isomatte, kein Schlafsack und auch keine Ohropax. Aus diesem Grund trage ich in dieser Nacht eine Jeans, Socken und decke mich mit meiner Sweat-Jacke zu. Wir wünschen uns gegenseitig eine gute Nacht Auch jetzt sagt der alte Franzose nichts. Doch kaum ist das Licht aus, schnarcht der Franzose vom Feinsten! Na das kann ja eine tolle Nacht werden, und es ist erst kurz nach 23 Uhr! Nach vielen missglückten Versuchen in verschiedenen Positionen einzuschlafen, würde ich nun liebend gern diese Schnarchhöhle verlassen und irgendwo in Ruhe ein Buch lesen. Ich erwische mich nun dabei den zeitlichen Abstand zwischen zwei Schnarchgeräuschen zu ermitteln. So ziemlich genau nach allen drei Sekunden höre ich dieses nervtötende Geräusch. Ich sehe nach der Uhrzeit, und stelle fest, dass ich erst zwei Stunden der Nacht überstanden habe. Ich stelle weiterhin fest, dass ich bereits zweitausendvierhundert Schnarcher gehört habe, aber noch grausamer ist die Vorstellung, dass ich noch sechstausend dieser Geräusche vor mir habe. Was mache hier ich überhaupt? Anstatt zu schlafen und aus der notwendigen Ruhe Kraft für die nächste Etappe zu tanken, mache ich hier schwachsinnige Rechenspiele. Da geschieht es! Der alte Franzose schnarcht nicht mehr. Für einen Augenblick freue ich mich, aber was nun? Der Franzose schnarcht nicht mehr, nein, er atmet auch nicht mehr! Der wird sich doch wohl nicht jetzt, und hier dazu entschieden haben, das Zeitliche zu segnen? Ich denke darüber nach, ob ich nach ihm sehen soll, oder jemanden zu Hilfe rufe, oder ob ich die Ruhe einfach nutze um endlich einzuschlafen. Die Entscheidung ist wirklich nicht einfach, aber der Franzose hat mir die Entscheidung aus der Hand genommen, denn mit einem plötzlich lang anhaltenden Schnarcher gefolgt von einigen schmatzenden und fletschenden Geräuschen, die wohl dadurch entstehen, dass beim heftigen Schütteln seines Kopfes sein Gehirn links und rechts von innen an seine Schädelwände prallt, kam er zurück in meine Welt. Nach ein paar Minuten hat sich aber alles wieder stabilisiert. Der drei- Sekunden-Rhythmus hat sich wieder eingestellt. Um 3:30 Uhr schaue ich zuletzt auf mein Handy. Kurz danach ändert der Franzose seine Liegeposition und schnarcht nicht mehr, atmet aber noch. Ich nutze die Ruhephase, lege mich auf meinen Bauch, und fädele meine Füße durch die Gitterstäbe am Fußende meines Bettes. Mein Gesicht wende ich vom Franzosen ab und lege mir noch das Kopfkissen auf mein Ohr. Ich muss tatsächlich eingeschlafen sein. Irgendwann drehe ich mich im Schlaf wie normalerweise üblich, um. Meine Füße stecken jedoch wegen des für mich zu kurzen Bettes in dem Eisengestänge des Bettes. Das Befreien meiner Füße aus dem Eisengestänge des Bettes, sorgen für Krämpfe in beiden Füßen und Unterschenkeln, die mich gegen 5:50 Uhr dazu veranlassen, das Zimmer zu verlassen und im und vor dem Haus herum zu laufen. Ich beende diese Nacht, die mich mittlerweile auch zum Frieren bringt und bin positiv gespannt, was mich heute bei einer laut Reiseführer „einfachen Etappe“ erwartet.
Fazit des Tages: Ich bin nach diesem ersten Tag an meine Grenzen der körperlichen Belastung angelangt und dann werde ich noch um die notwendige nächtliche Erholungsphase gebracht.
Further information at
http://www.jakobsweg-spanien.info/Galerie du tour
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